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Bei der Ausbildung des Pferdes steht für mich dessen psychische und physische Gesunderhaltung im Vordergrund. Unter dieser Prämisse soll den Bewegungen des Pferdes, seinen natürlichen Veranlagungen entsprechend, durch eine systematische und individuelle Ausbildung mehr Eleganz und Anmut verliehen werden. Elementare Grundlagen einer so gedachten Ausbildung finden sich in den Lehrwerken der klassischen Reitkunst wieder.

Die klassische Reitkunst findet ihre Wurzeln in den Lehren berühmter Reitmeister wie F.R. de la Guérinière und A. Pluvinel. Mir ist wichtig ihre überlieferten Erkenntnisse mit dem heutigen Fachwissen über die Anatomie und Biomechanik des Pferdes zu verbinden. 

Diese Verbindung möchte ich am Beispiel des Schulterherein deutlich machen. 

Guérinière selbst greift auf die Ausführungen des englischen Duke of Newcastle zurück, welcher das Schulterherein bereits im 17ten Jahrhundert, allerdings auf dem Zirkel, beschreibt. Das Schulterherein auf dem Hufschlag geritten geht jedoch auf Guérinière zurück, welcher das Schulterherein - nach seinen Lehren auf vier Hufschlägen geritten - durch diese Veränderung zu einer Schlüssellektion der klassischen Reiterei machte. In seinen Ausführungen beschreibt er, dass diese Lektion das Pferd in seinen Schultern frei mache und die Hinterhand auf die Hankenbeugung vorbereite. Dieser Effekt wird durch das Kreuzen des jeweils inneren Vorderbeines und Hinterbeines über das jeweils äußere Bein hervorgerufen. (Als „Innen“ beim Schulterherein wird immer die Seite des Pferdes beschrieben, in deren Richtung es gestellt und gebogen ist.) Hierbei muss die Muskulatur der Schulter so arbeiten, dass die Schulter angehoben wird, was diese löst und kräftigt. Die Tragkraft des inneren Hinterbeins wird verbessert, da dessen Muskulatur ein Anheben und Übersetzen des Beins bewerkstelligen muss, wobei es gleichzeitig zu einer vermehrten Hankenbeugung kommt. Inneres Hinterbein und innere Schulter werden hierbei einander angenähert, da die innere Hüfte nach vorne geschoben und abgesenkt und die innere Schulter zurückgenommen wird. Dieses Verkürzen wird durch eine Kontraktion der Muskulatur der inneren Seite hervorgerufen. Der äußere Rückenmuskel wird bei dieser Lektion gedehnt. Nur in einer der Längsbiegung entsprechenden Stellung und Aufrichtung kann dieser Bewegungsimpuls ungestört fließen. Ein Überstellen oder unnatürliches Aufrichten des Pferdekopfes würde eine Unterbrechung dieser Dehnung verursachen. (vgl. Stodulka, 2008)

 

Durch die gymnastizierende Wirkung des Schulterherein trägt es in erheblichem Maße zum Geraderichten des Pferdes bei. Da die natürliche Schiefe des Pferdes maßgeblich durch eine Verkürzung des langen Rückenmuskels der hohlen Seite verursacht ist, wirkt Schulterherein - in geeignetem Maße eingesetzt - der natürlichen Schiefe des Pferdes entgegen und trägt somit zur Verbesserung der Balance des Pferdes mit dem Reiter bei.

Hieraus ergeben sich weitere Fragestellungen, welche sich bei der klassischen Ausbildung des Pferdes stellen:

- Warum müssen wir ein Pferd geraderichten?                                      

- Wann findet Schulterherein auf vier und wann auf drei Hufschlägen    

   Anwendung?   

- Wie bereitet das Schulterherein den Travers vor?

- Weshalb ist Vorwärts-abwärts-Dehnen so wichtig?

 

Der verantwortungsvolle Umgang mit dem Partner Pferd steht im Vordergrund jedes reiterlichen Handelns. Dieser Verantwortung kann ich nur gerecht werden, wenn ich mir Tag für Tag solche und weitergehende Fragen stelle und mein Handeln und die Entwicklung des Pferdes ständig reflektiere.

Literatur:

1. F.R. de la Guérinière. Ins Deutsche übersetzt von Eberhard Kern. Barockes Reiten. Cadmos Verlag. Brunsbek. 2008

2. R. Stodulka. Vom Reiten zur Reitkunst. Die klassische Reitlehre und die Biomechanik des Pferdes. Parey. Stuttgart. 2008